Bloody Sunday – Blutsonntag – 30. Januar 1972
… Hergang und Folgen des Bloody Sunday
Bloody Sunday
Als Blutsonntag (auch «Blutiger Sonntag», englisch «Bloody Sunday», irisch «Domhnach na Fola») wird in Nordirland der 30. Januar 1972 bezeichnet. An diesem Tag wurden in der nordirischen Stadt Derry/Londonderry bei einer Demonstration für Bürgerrechte und gegen die Internment-Politik der britischen Regierung unter Edward Heath 13 Iren von Soldaten des britischen Parachute Regiment erschossen und 13 weitere angeschossen. Da die Opfer unbewaffnet waren, führte das Ereignis zur Eskalation des Nordirlandkonflikts. Erst sehr viel später nahm die britische Regierung Stellung zu dem Ereignis: Am 15. Juni 2010 bat der britische Premierminister David Cameron im Namen der Regierung um Verzeihung für die Taten der britischen Soldaten.
Hergang
Nach Angaben der britischen Armee wurde im Katholikenviertel Bogside aus den Reihen der Demonstranten das Feuer auf die Soldaten eröffnet, welches diese nur erwidert hätten. Allerdings steht dies in deutlichem Widerspruch zu Aussagen von Teilnehmern des Protestzuges sowie zu der Tatsache, dass kein britischer Soldat verletzt, mindestens fünf Demonstranten aber von hinten getroffen wurden. Unklar ist bis heute, welche militärische Rolle den rund 30 beteiligten Fallschirmjägern, die für eine polizeiliche Absicherung des Zuges nicht ausgebildet waren, an diesem Tage zugedacht war. Gesichert ist, dass nach dem Befehl zur Feuereinstellung noch etwa 100 Schüsse abgegeben wurden.
Eine erste Untersuchung des Vorfalls durch Lord Widgery drei Monate später entlastete die Armeeführung und die beteiligten Soldaten. Da allerdings von Anfang an starke Zweifel an der Neutralität der Untersuchungskommission bestanden, wurde dieses Ergebnis von den meisten irischen und internationalen Beobachtern abgelehnt. Der Name Widgery sowie der Ort Coleraine, an dem die Untersuchung stattfand, sind daher in Nordirland zu Synonymen für Behauptungen der britischen Armee geworden, die mit den Beobachtungen vieler Zeugen offensichtlich nicht übereinstimmten. Lange Zeit wurde zudem dem damaligen IRA-Mitglied und späteren Politiker der Partei Sinn Féin, Martin McGuinness, die Aussage zugeschrieben, er selbst habe am Bloody Sunday den ersten Schuss abgegeben. Diese Behauptung wurde aber von ihm stets bestritten.
Als Reaktion auf den Blutsonntag verübte die IRA am 22. Februar 1972 einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier der Parachute Brigade in der Garnison Aldershot. Der Anschlag traf jedoch keine Soldaten, sondern tötete sechs Zivilisten und einen katholischen Militärgeistlichen.
Im Januar 1998 kündigte der damalige Premierminister Tony Blair angesichts andauernden Protests von Angehörigen gegen die ersten Untersuchungen eine gründliche Revision unter Lord Saville an. Der Untersuchungsbericht, der sogenannte Saville-Report, wurde schliesslich am 15. Juni 2010 veröffentlicht und kommt zu dem Ergebnis, dass die britischen Soldaten zuerst geschossen haben und nicht zuvor beschossen worden sind. Anlässlich der Vorstellung des 5000 Seiten umfassenden Berichtes bat Premierminister David Cameron im Namen der britischen Regierung um Verzeihung für die tödlichen Schüsse. Er bedauere die Gewaltanwendung der britischen Armee zutiefst. Cameron bezeichnete das Handeln der Soldaten als ungerechtfertigt und unvertretbar.
Am 22. September 2011 beschloss die britische Regierung daher, die Hinterbliebenen der Opfer des Blutsonntags zu entschädigen. Wer diese Entschädigungen erhalten sollte – und in welcher Höhe –, war zunächst unklar. Einige Familien der Opfer hatten angekündigt, keine Entschädigungen zu beantragen, solange die eingesetzten Soldaten nicht angeklagt würden. Zwei Schwestern eines getöteten Demonstrationsteilnehmers lehnten die Entschädigung sofort ab.
2012 wurden Mordermittlungen eingeleitet, und im November 2015 wurde ein inzwischen 65-jähriger ehemaliger britischer Soldat unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Am 14. März 2019 wurde bekannt, dass die zuständige Generalstaatsanwaltschaft gegen einen Soldaten, der als «Soldier F» bezeichnet wurde, Anklage wegen Mordes in zwei Fällen (James Wray und William McKinney) sowie versuchten Mordes in vier Fällen erheben werde. Für 16 weitere Soldaten und zwei offizielle IRA-Männer gäbe es dagegen nicht genügend Beweise für eine Anklage.
Folgen
Infolge des Blutsonntags verschärfte sich der Nordirlandkonflikt deutlich, die IRA verübte mehrere Anschläge als Racheakte. Nach Bekanntwerden der Ereignisse stürmte eine wütende Menge die britische Botschaft in Dublin und brannte sie bis auf die Grundmauern nieder. 1972 wurde zum blutigsten Jahr des Nordirlandkonflikts.
Zum 35. Jahrestag des Blutsonntags erkannte die republikanische Partei Sinn Féin 2007 erstmals die reformierte nordirische Polizei offiziell an.
Die Opfer
Die einzelnen Toten waren:
- Jackie Duddy (17 Jahre alt) wurde auf dem Parkplatz des Rossville-Wohnblocks durch einen Schuss in die Brust getötet. Vier Zeugen sagten später aus, dass er unbewaffnet war und vor den Soldaten wegrannte. Drei von ihnen sahen einen Soldaten, der bewusst auf ihn zielte.
- Patrick Doherty (31 Jahre alt) wurde von hinten erschossen, als er versuchte, sich kriechend auf dem Vorplatz des Rossville-Wohnblocks in Sicherheit zu bringen. Sekunden bevor er starb, wurde er von dem französischen Fotografen Gilles Peress fotografiert. Die Fotografien zeigen, dass er unbewaffnet war.
- Bernard McGuigan (41 Jahre alt) wurde von hinten in den Kopf geschossen, als er versuchte, Patrick Doherty zu helfen. Auch er ist auf Peress’ Bildern zu sehen. Er winkte mit einem weissen Taschentuch, um den Soldaten zu zeigen, dass er friedliche Absichten hatte.
- Hugh Gilmour (17 Jahre alt) wurde in die Brust geschossen, während er auf der Rossville Street von den Soldaten weglief. Er wurde Sekunden, nachdem er getroffen wurde, fotografiert. Zeugen sagten aus, dass er unbewaffnet war.
- Kevin McElhinney (17 Jahre alt) wurde von hinten erschossen, während er versuchte, sich im Vordereingang des Rossville-Wohnblocks in Sicherheit zu bringen. Zwei Zeugen sagten aus, dass er unbewaffnet war.
- Michael Kelly (17 Jahre alt) stand nahe der Trümmer-Barrikade vor dem Rossville-Wohnblock, als man ihm in den Bauch schoss. Er war unbewaffnet, stand aber möglicherweise neben jemandem, der eine Waffe benutzte.
- John Young (17 Jahre alt) wurde in den Kopf geschossen, als er nahe der Trümmer-Barrikade vor dem Rossville-Wohnblock stand. Zwei Zeugen sagten aus, dass er unbewaffnet war.
- William Nash (19 Jahre alt) stand in der Nähe der Barrikade, als man ihm in die Brust schoss. Zeugen sagten aus, dass er unbewaffnet war und anderen helfen wollte, als er erschossen wurde.
- Michael McDaid (20 Jahre alt) wurde ins Gesicht geschossen, als er sich von den Soldaten wegbewegte. Die Flugbahn der Kugel, welche ihn traf, deutet an, dass er von Soldaten, die auf den Derry Walls positioniert waren, erschossen wurde.
- James Wray (22 Jahre alt) wurde zunächst nur verwundet und anschliessend aus kurzer Entfernung erschossen, als er auf dem Boden lag. Augenzeugen sagten aus, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Beine zu bewegen, als man auf ihn schoss.
- Gerald McKinney (34 Jahre alt) wurde erschossen, als er flüchtete. Die Kugel durchschlug seinen Körper und tötete auch den vor ihm laufenden Gerald Donaghey.
- Gerald Donaghey (17 Jahre alt) wurde im Bauch getroffen, als er versuchte, sich zwischen Glenfada Park und Abbey Park in Sicherheit zu bringen. Er wurde in ein nahe gelegenes Haus gebracht, wo ihn ein Arzt untersuchte. Seine Taschen wurden nach aussen gewendet, als man versuchte, ihn zu identifizieren. Weder der erstuntersuchende Soldat, noch der britische Armee-Arzt, welcher seinen Tod feststellte, hatten etwas Auffälliges bei ihm wahrgenommen. Ein späteres Foto der Polizei von seiner Leiche zeigte Nagelbomben in seinen Taschen. Gerald Donaghy war Mitglied der IRA-nahen Fianna Éireann, einer republikanischen Jugendbewegung.
- William McKinney (27 Jahre alt, nicht mit Gerald McKinney verwandt) wurde in den Rücken geschossen, als er versuchte, Gerald McKinney zu helfen.
- John Johnston (59 Jahre alt) wird von manchen Quellen zu den Opfern dieses Tages gezählt. Er wurde bereits 15 Minuten, bevor das Feuer auf die Demonstranten eröffnet wurde, in der William Street angeschossen. Johnston erlag vier Monate später einem Hirntumor.
Rezeption in der Kunst
Etliche Lieder setzten sich mit diesem Ereignis auseinander, unter anderem Sunday Bloody Sunday der irischen Rockgruppe U2, The Town I Loved So Well von Phil Coulter, The Luck of the Irish und Sunday Bloody Sunday von John Lennon, Give Ireland back to the Irish von Paul McCartney, Bloody Sunday der irischen Gruppe Cruachan.
In katholischen Vierteln Belfasts und Derrys erinnern bis heute zahlreiche Wandgemälde an das Ereignis und die Opfer. Teilweise werden sie dabei in einen grösseren Zusammenhang irischen Widerstandes gegen britische Herrschaft gestellt.
Paul Greengrass (Regie und Drehbuch) verarbeitete die Ereignisse des 30. Januar 1972 in dem halbdokumentarischen Spielfilm Bloody Sunday, der 2002 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.
Margo Harkin, die bei den Demonstrationen am 30. Januar 1972 in Derry selbst dabei war, hat 2006 die Dokumentation „Blutiger Sonntag“ veröffentlicht, die sich mit dem Tathergang, aber vor allem mit der von Lord Saville geleiteten Untersuchung und dem Umgang mit den damaligen Opfern und Hinterbliebenen beschäftigt.
Im Februar 2010 wurde den unter dem Namen „Bogside Artists“ arbeitenden Künstlern Tom Kelly, William Kelly und Kevin Hasson aus Derry der Preis der Joseph Beuys/Demarco European Art Foundation verliehen. Richard Demarco, Gründer der Stiftung, sagte, dass die Bogside Artists ganz im Sinne des Gründers und Namensgebers des Preises, Joseph Beuys, arbeiteten und dessen Praxis, Kunst als Heilung zu begreifen, fortsetzten.
Das Lied «Zombie» hingegen ist ein im September 1994 veröffentlichtes Lied von Dolores O’Riordan. Es war die erste Singleauskopplung des Albums «No Need to Argue» der irischen Band «The Cranberries». Der Text behandelt den Nordirlandkonflikt und gilt als Protestsong dagegen. Den Text des Liedes schrieb Dolores O’Riordan während einer Tour der Band 1993 in England in Erinnerung an zwei Kinder (Jonathan Ball und Tim Parry), die während eines Bombenanschlags der IRA am 20. März 1993 in Warrington getötet wurden. Wesentliche Passagen beziehen sich auf den Osteraufstand 1916 und seine traumatischen Folgen.